Südfrankreich-Report

Februar 2004

Für Freitag war für Südfrankreich Ostsüdostwind angesagt. "Ostwind? Wen interessiert das schon?", fragt man sich als Deutscher. Doch in der Camargue sieht man das anders. Denn Ostsüdost heißt Wind vom Meer, also stetig mit weniger Böen als ein nördlicher Mistral, und außerdem erträgliche Temperaturen um die 10 Grad. Denn "le Mistral, c'est froid!" [= kalt], sagt David Garrel. Man möchte seinen Namen eigentlich "Däyvid Gärrell" aussprechen, doch da er "Fabrique en France" ist, muss man sich vom angelsächsischen verabschieden und stattdessen "Dahvied Gahreel" sagen. Genauigkeit der Aussprache ist in Frankreich für Ausländer sowieso keine schlechte Idee, insbesondere nicht, wenn die angeredete Person (ohne Blei) 102 Kilogramm wiegt und unter den Speedsurfern als "La Bete" ("Die Bestie") bekannt ist: Der Mann, der trotz verstauchtem Fuß und verdrehtem Knie am 3. Dezember 2003 mit 45,51 Knoten den 10 Jahre alten Weltrekord von Thierry Bielak überbot.

Bielak ist auch da. Er argumentiert für einen längeren Bremsweg. Allerdings nicht auf der Autobahn, sondern auf "le canal", dem berühmt-berüchtigten Speedchannel in Saintes Maries de la Mer, dem Mekka der Speedsurfer und dem Ort, an dem wohl die meisten Rekorde im Speedsurfen aufgestellt wurden. Bielak sagt, 100 Meter Bremsweg reichten vielleicht noch bei 35-40 Knoten Wind aus, aber bei 50 Knoten Wind sei es "fou" (verrückt). Er könnte recht haben, schließlich passiert ein Drittel der Stürze in der Bremszone, und die Stürze tun weh. Aber Finian Maynard argumentiert dagegen: "Der beste Wind ist auf den letzten Metern des Kurses, weil dort keine Dünen im Weg stehen. Wenn wir den Bremsweg verlängern und dafür die Messstrecke um 20 Meter vorverlegen, sind das 20 Meter mit weniger gutem Wind. So bricht man keinen Rekord. Und wenn Du einen Weltrekord brechen willst, mußt Du bereit sein, Risiken einzugehen."

Damit war die Diskussion beendet, aber nicht, weil Finian mit 118kg nochmal 6kg mehr auf die Waage  bringt als Bielak. Sondern deswegen, weil Finian an dem 3. Dezember noch schneller war als selbst La Bete, nämlich 46,21 Knoten. Das reichte satt für einen neuen Weltrekord im Surfen. Außerdem war es auf Haaresbreite am Heiligen Gral, dem 1993 aufgestellten und immer noch gültigen Geschwindigkeitsrekord des Spezialbootes "Yellow Pages". Und "YP must go down", darin sind sich alle einig, und Finian ist der einzige Mann mit einer großen Chance darauf. Außerdem hat er diesen Wettkampf, den "Masters of Speed", ins Leben gerufen, ohne Sponsoren, ohne Geld, aber mit sehr viel Arbeit und zähem Willen. So bleibt die Messstrecke, wo sie ist.

Außerdem gab es am Freitag noch nichts zu messen. Trotz der guten Vorhersage kam der Wind nicht. Zwar blies er in Hyeres im Osten, und in Gruissan im Westen, doch in der Mitte ging nichts, das Windband verlief offshore. Umso größer wurde der Druck für Samstag morgen. Um 7:00 früh, noch im Dunkeln, waren alle Speeder schon im Neopren mit fertig aufgebauten Segeln am Strand. Alle Speeder? Nein, leider doch nicht, denn Südfrankreich machte seinem Ruf als Land der Diebe und Gauner alle Ehre: Der Transporter von Marianne Tertian, der französischen Surferin, war inklusive aller Naish-Protos und der nagelneuen Copello-Needle gestohlen worden. Böse alte Erinnerungen an den Diebstahl von David White's Bus werden wach. Welcome to France.

Aber, das Leben geht weiter, insbesondere bei Windstärke Neun. Aktuelle Messungen ergeben jedoch nur 35-40 Knoten statt der erhofften 45-50. "Das wird nicht reichen", sagt Finian. Aber versuchen können wir es trotzdem. Ich zeige auf eine kleine Brücke, die gerade überschwemmt wird: "Sieht wie eine Sturmflut aus". "Na und?", fragt Finian. Dabei sollte er es wissen. Die Sturmflut vom Halloween-Tag im letzten Herbst, wo einer der Messwagen als unfreiwilliger Wellenbrecher diente, ist bis heute unvergessen. Doch er gibt selbst die Antwort: "Auch wenn die Überflutung kommt, haben wir noch ein paar Stunden. Solange können wir fahren." Na gut, aber ich parke mein Auto lieber auf dem Deich... und tatsächlich steigt der Pegel im Tagesverlauf um einen Meter, so dass selbst die Ränder vom Kanal teilweise überspült werden. Tja, dann laissez faire.

In der Zwischenzeit ist ein veritabler Zoo von schrillen Segel- und Boardprototypen am Strand ausgebreitet. Praktisch jeder Teilnehmer hat aufgerüstet und neue Kreationen dabei. Den schwersten Stand hat Finian, denn sein Stil wird von fast allen kopiert: Bielak hat keine klassischen Needles mehr, sondern kurze, etwas breitere Löffelboards dabei. Außerdem hat er jetzt auch abgesägte halbe Gabelbäume - super aerodynamisch! David zeigt stolz neue North-Segel mit ultrabreiter, profilierter Masttasche. Lediglich Martin aus Holland hat die schwer zu riggenden Speedseeker-Segel von Neil Pryde nicht mehr am Strand: "Die Serien-RS3s sind auch gut, außerdem konnte Chaastra die neuen Nitro 5 nicht so einfach liefern."

"Le course is open", funkt Pascal Maka durch. Jetzt heißt es losfahren. Warum ist es so kalt und soviel Wasser im Anzug? Ist der Reißverschluß nicht zu? Wie sich herausstellte, war es eine schlechte Idee, sich den Rückenreißverschluß von einem Kraftpaket wie Bielak zumachen zu lassen. Er hat das mit dem "Reißen" etwas zu wörtlich genommen und dabei den Trockenverschluß so schnell gezogen, dass er kaputt gegangen ist. Das ist kein gutes Gefühl, frühmorgens, im Halbdunkeln, bei Sturm und Sturmflut an einem kalten Strand mit 10 Liter Wasser in einem kaputten Trockenanzug zu sitzen. Aber für heulen bleibt keine Zeit: Die anderen starten und ziehen vorbei. Also muß der Anzug irgendwie geflickt werden, ritsch-ratsch, zurück und nochmal, siehst Du, ist doch schon fast dicht. Ran an den Start, auf den ersten "Run".

Man macht nicht viele Runs an einem Tag. Manche Fahrer schaffen nur zwei oder drei, obwohl es mit Anlauf und Bremsen doch nur 50-60 Sekunden Kampfzeit sind. Es liegt nicht nur daran, dass man sein Material irgendwie gegen den Wind wieder zurück schleppen oder fahren muß. Es ist eine Frage der passenden Bedingungen, und der notwendigen Konzentration. Denn wenn Du denkst, dass Du schnell bist, dann bist Du nicht schnell. Nur dann, wenn Du gar keine Zeit mehr zum Denken hast, jede Millisekunde mit dem endgültigen Crash rechnest, sich die Finne komisch weich anfühlt, dann, dann vielleicht bist Du schnell.

Aber immer noch nicht so schnell wie Finian.